Wo liegt da der Genuss?

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von nachbarschreck, 27.April.2019.

  1. nachbarschreck

    nachbarschreck Schaut öfter mal vorbei

    Hallo,

    zum Thema Improvisation würde ich gerne mal in die Runde fragen: Wo liegt bei euch der Genuss oder Freude, wenn ihr jemand anderen beim Improvisieren zuhört? Als ich das erste mal John Contrane improvisieren gehört habe empfand ich das als Chaos.Heute kann ich wenigstens Stimmigkeit der Töne zu den Harmonien hören und das als Leistung bewunden. Bei Dexter Gordon z.b empfinde ich "Wow frech". Bei Sonny Rollins freue ich mich über die endlosen Töne die zusammengefügt eine schöne Melodie ergeben. Also alles in allem empfinde ich Improvisation anderer eher als Lehrstunde, denn als Genuss.

    Wie ist das bei euch ?
     
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  2. saxhornet

    saxhornet Experte

    Hängt vom Spieler den man hört, dem eigenen Leistungsstand des Ohrs und dem eigenem Geschmack ab. Es gibt Spieler, wo ich die technische Leistung bewundere und Spieler, denen ich stundenlang zuhören kann und welche wo ich schnell wegschalte.
     
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  3. peterwespi

    peterwespi Ist fast schon zuhause hier

    Bei Impros, die überwiegend auf Technik und Geschwindigkeit beruhen, langweile ich mich sehr schnell und hänge ab.
    Für mich müssen Impros spannend gestaltet sein, der Solist soll mich in sein Solo entführen und überraschen. Dabei bedeutet "überraschen" nicht, dass ständig immer etwas neues kommen muss, denn z.B. auch eine Phrase, die zwei Mal minimal verändert gespielt wird, löst bei mir das Interesse aus, wie sie wohl beim nächsten Mal klingt (Motiv verarbeiten). Kann ein Solist während des ganzen Solos meine Aufmerksamkeit aufrecht erhalten und dabei die Spannung stetig steigern und in einen Höhepunkt führen, dann ist für mich ein Daumen nach oben. Ich bevorzuge eher Impros, die unterhalten, als solche, wo der Solist ohne hörbaren Zusammenhang zeigt, was er alles geübt hat... ;)
     
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  4. coolie

    coolie Strebt nach Höherem

    Eine spannende Frage! Generell empfinde ich es auch so, dass mit dem Anstieg des eigenen theoretischen Wissens das Zuhören etwas technischer/nüchterner wird. Man durchschaut halt einige Tricks bzw. Klischees und empfindet so manche Linie als "plausibel", die man früher nicht so richtig "entziffern" konnte. Der Genuss kommt dann ins Spiel, wenn der Musiker mich wirklich überraschen kann, wenn er/sie mit Witz/mit der Tradition spielt, wenn der Ton attraktiv ist, der Rhythmus mitreißend. Es ist aber (für mich) nie ausschließlich die Technik, die den Genuss erzeugt.
     
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  5. Claus

    Claus Mod Emeritus

    @peterwespi

    Schöne Beschreibung! Dem kann ich mich vorbehaltlos anschließen.
     
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  6. Saxoryx

    Saxoryx Strebt nach Höherem

    Dem schließe ich mich auch vorbehaltlos an. :) Jemand beim Improvisieren zuzuhören ist für mich in den allermeisten Fällen kein Genuss. Wenn ich mir das antun würde, wäre es wohl eher eine Qual. Ich höre es lieber, wenn jemand Melodien spielt und umspielt, keine Chord Changes, kein Harmoniegerüst, keine theoretischen Spitzfindigkeiten. Melodie, Melodie, Melodie. Und das schön variiert, mit einem schönen Klang, das ist für mich ein großer Genuss. Ich habe letztens mal wieder versucht, Michael Brecker zu hören. Nach sehr kurzer Zeit habe ich abgeschaltet. Er war ein toller Spieler, ein toller Techniker, ein toller Musiker, das alles ja, aber zuhören kann man ihm nicht. Und das gilt eigentlich für fast alle berühmten Profis, die viel und gern improvisieren. Parker, Coltrane, Brecker, wer auch immer. Zuhören kann man Leuten wie Johnny Hodges oder Ben Webster. Oder natürlich großen Meistern wie @Wuffy. Da könnte ich stundelang zuhören. Und tue es auch. Aber das sind eben Melodien, keine Improvisation.

    Ich habe die Begeisterung für Improvisation, eventuell sogar stundenlang, nie nachvollziehen können und kann es auch heute nach Jahren noch nicht. Ich spiele keine Akkorde oder Chord Changes, ich spiele Melodien. Und da mal ein kleines Solo, schön. Aber nicht stundenlang. Da (um)spiele ich dann lieber die Melodie noch einmal. :)
     
    Zuletzt bearbeitet: 27.April.2019
  7. bhimpel

    bhimpel Ist fast schon zuhause hier

    Bei mir spielen für einen Genuß von Improvisationen verschiedene Faktoren eine Rolle.

    Meist ist es das Zusammenspiel mehrerer Musiker, das ich genieße. Wie sie miteinander kommunizieren. Daher kann ich Aufnahmen über Playalongs meist nicht genießen, auch wenn sie noch so toll sind. Eine Kommunikation in beide Richtungen findet dort eben nicht statt. (Solo-Improvisationen sind wieder etwas anderes, dabei spielt der Musiker ja mit sich selber.)

    Genießbare Improvisationen müssen für mich eine gute Mischung aus schöner/interessanter Melodik, Rhythmik, Harmonik, Spannung, Dynamik, Phrasierung, Klang etc. enthalten. Das können überraschende Momente sein, aber auch Linien und Klänge, die sich in Wohlgefallen auflösen. Verkopfte Musik genieße ich wahrscheinlich nicht so. Es sollte sich für mein Gehör ganz natürlich entwickeln. Das hängt wiederum vom Spielniveau und den Hörgewohnheiten des Hörers ab. Ich bewundere Chris Potter, aber kann seine Improvisationen meist nicht genießen, da seine Improvisationen meilenweit von meinem Hör- und Spielniveau entfernt ist. Vielleicht genieße ich sie ja in 10 Jahren:) Seine Improvisationen sind meist zu komplex. Dafür genieße ich aber fast alles von Joshua Redman, der es auf magische Weise schafft, komplexe Improvisationen genießbar zu machen:) Und natürlich gibt es zahlreiche alte Meister, die ich regelmäßig genieße, allen voran Zoot Sims und Stan Getz.
     
  8. saxhornet

    saxhornet Experte

    Ach herrje. Du hast irgendwie noch nicht verstanden, dass sowohl Akkorde, als auch Akkordfolgen such nicht mit Melodien ausschließen, sondern im Gegenteil, Akkorde und Akkordwechsel sind ein üblicher Bestandteil von Melodien, ob simpler oder komplexer, egal ob komponiert oder improvisiert. Man sollte nicht seinen Geschmack mit falschen Vorstellungen über Melodien mischen oder verwechseln.
     
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  9. dikoki

    dikoki Kann einfach nicht wegbleiben

    Das erste, worauf ich immer anspringe, ist der Sound. Da ist es mir zunächst egal, was da genau improvisiert wird. Wenn z. B. plötzlich aus irgendeinem Archiv "Dexter Gordon improvisiert über Blues in Bb unter ausschließlicher Verwendung von Viertelnoten und Moll-Pentatonik" auftauchen sollte - ich wäre vermutlich begeistert, einfach weil mich sein Sound immer wieder umhaut. Bei mir wird halt schneller der Bauch als der Kopf angesprochen.

    Wenn jemand ausgefuchst und originell über Skalen und Akkorde improvisiert (sofern es sich mir überhaupt erschließt) und dabei auch noch höchst virtuos spielt, bewundere ich das durchaus. Wie z. B. Michael Brecker, bei dem ich immer wieder mit offenem Mund staune. Der mich aber auch irgendwie kalt lässt. Das ist dann eher Kopfsache - intellektueller Genuss gewissermaßen, aber nix fürs Herz.

    Bei Improvisationen ist auch die Dramaturgie wichtig. Das Solo vollzieht sich im Zusammen- und Wechselspiel mit anderen Musikern. Sie hören und reagieren aufeinander, setzen Akzente, greifen von anderen etwas auf und entwickeln es weiter, sind originell und haben Witz (streuen vielleicht ein paar Zitate oder Parodien ein), schaukeln sich gegenseitig auf. Das fesselt mich und ich bin ganz beglückt.

    Langer Rede kurzer Sinn: Genuss und Freude liegen auch in der Musik bei jedem woanders. Zum Glück! Ich reagiere allgemein eher auf Schlüsselreize, hier z. B. Sound oder Humor. Ob es "schräg" klingt oder nicht, spielt für mich keine Rolle. Technik, Virtuosität oder Harmoniekenntnisse sind für mich nicht entscheidend
     
    Zuletzt bearbeitet: 27.April.2019
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  10. TSax80

    TSax80 Ist fast schon zuhause hier

    Ich finde Brecker super, power and control, er geht mir vom Kopf bis in die Füße, alles dazwischen inklusive.
    @dikoki: an welche Spieler denkst Du denn bei Saxophon fürs Herz?
     
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  11. dikoki

    dikoki Kann einfach nicht wegbleiben

    Och, Dexter Gordon nannte ich ja schon. Und sonst z. B. Ben Webster, Pharoah Sanders, Ornette Coleman, Sonny Rollins, Eric Dolphi, Johnny Hodges, Archie Shepp...
     
  12. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Eleganz und Virtuosität. Bei mir kulminiert das z.B. im Spiel von Sonny Stitt.



    Ich liebe aber auch moderne Tenoristen wie Chris Potter - es ist halt nicht mehr ganz so leicht zu folgen. Faszinierend interessant bleibt es trotzdem.
     
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  13. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    Echt?
    Es gibt ein paar Anthologies auf youtube, willkürlich mal Nummer 6 genommen...bei mir geht das in's Herz und in die Haxn :)



    oder hier wunderschön:

     
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  14. Juju

    Juju Strebt nach Höherem

    Hmm, kann eine Lehrstunde nicht auch purer Genuss sein?? Ich finde, das schließt sich überhaupt nicht aus. Ich genieße es, wenn jemand meisterhaft sein Instrument beherrscht, das kann ja vieles beinhalten, von tollem Sound über super Swingfeel, tolle Time an sich, solide Technik, ausgefuchstes Harmonieverständnis, ob jemand eine tolle Geschichte erzählen kann - you name it! Ich würde mal sagen, ich höre zu 99.9% improvisierte Musik, wenn es kein Genuss wäre, würde ich mir das sicher nicht antun. Dann würde ich es aber auch nicht lernen wollen.
    Umgekehrt glaube ich aber auch nicht, dass man improvisierte Musik verstehen muss, um sie zu genießen. Vielleicht ist das in einer Live-Situation auch nochmal anders, aber Dave erlebt das so regelmäßig bei seinen Konzerten, dass jemand "zufällig" in sein Konzert gerät, nie zuvor Jazz gehört hat, die Musik absolut intensiv fühlt und sich darauf hin beginnt für Jazz zu interessieren. Ihm ist das das allerwichtigste: den Zuhörer irgendwie zu berühren mit dem, was er macht (und nicht, dass jemand ihn anspricht und ihm sagt, wie hip die Tritonussubstition im zehnten Takt vom zweiten Chorus war).
    Ich glaube, dieser "visceral aspect" kommt bei Live-Konzerten besonders gut durch. Vor allem, wie Benjamin auch sagt, durch das Zusammenspiel der Musiker und was da aus dem Moment heraus entsteht. Und auch der Risiko-Aspekt. Da passieren dann oft Dinge, die auf einem Studio-Album eher so nicht passieren, weil da dann Länge des Stückes, Gesamtzeit im Studio etc eine Rolle spielen. Im Studio spielt man (eher) auf Nummer sicher, man weiß, was funktioniert, und Dinge außerhalb der Comfort Zone wird man vielleicht nicht unbedingt versuchen (es sei denn, man hat ewig Zeit..)
    Live finde ich es toll, wenn der Improvisierende uns auf eine Reise mitnimmt und uns teilhaben läßt an einer Exploration jenseits von ausgetretenen Pfaden. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll, aber wenn ich das miterleben darf, könnte ich vor Glück zerspringen!

    LG Juju
     
  15. ToMu

    ToMu Strebt nach Höherem

    so ein links-saxophon ist schon eine tolle sache, die musik aber auch, ;):cool:
     
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  16. saxhornet

    saxhornet Experte

    Bis auf Dexter alles Saxophonisten, die mir persönlich nicht so gefallen und auf meiner Playlist eher seltener im Verhältnis auftauchen mittlerweile. Bis auf Dexter sind die auch nichts für mein Herz, ganz und gar nicht. So unterschiedlich sind Geschmäcker.
     
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  17. TSax80

    TSax80 Ist fast schon zuhause hier

    Hey Ton, super Brecker Clip, besten Dank!
    @Juju: genau so fühle ich das auch :top:
     
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  18. bluefrog

    bluefrog Strebt nach Höherem

    Das gilt meiner Meinung nach für jede Musik, nicht nur improvisierte. Ich habe als Jugendlicher Bach (neben anderen Klassikern) entdeckt, ohne den Hauch einer Ahnung zu haben, was da genau vor sich geht. Und ehrlich gesagt habe ich jetzt, Jahrzehnte später, auch nur ein rudimentäres "Verständnis". Trotzdem berührt mich diese Musik bis ins Innerste.

    Im Jazz haben mich Coltranes Improvisationen sofort wie ein Blitz getroffen, als ich ihn zum ersten Mal im Radio hörte, und das, obwohl ihn der Moderator nach Strich und Faden runtergemacht hat. (Werner Götze vom BR, wenn den noch jemand kennt.)

    Live ist nochmal was anderes. Freejazz mag ich z.B. nur live hören, auf Konserve ist er für mich irgendwie tot.
     
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  19. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Die Bebilderung ist mir sowas von Wumpe - Stitt ist das eh nicht - dabei gibt es viele gute Bilder von ihm. Die Alternative wäre für mich das Einstellen des kompletten Albums gewesen oder die illegale Hochladung meiner CD.
     
  20. gaga

    gaga Gehört zum Inventar

    Mit dem Geschmack und der individuellen Verdaulichkeit von Musik ist es bei der improvisierten Musik im Grunde nicht anders als bei der komponierten Musik.

    Wer Mozart liebt, aber bei Bartok Grimassen zieht, der mag eben das Eingefahrene, Vorhersehbare, traditionell Erprobte.

    Wer Coleman Hawkins mag, aber schon bei Parker abschaltet, der mag eben das Eingefahrene, Vorhersehbare, traditionell Erprobte.
     
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