Jazz Standards

Dieses Thema im Forum "Saxophon spielen" wurde erstellt von Grammatico, 2.November.2020.

  1. Grammatico

    Grammatico Nicht zu schüchtern zum Reden

    @Kristina Shamgunova

    Erstmal vielen Dank für die Zeit, die Du in Deine ausführlichen Erklärungen investierst :). Ich habe Deinen approach einmal bei zwei Liedern aus Deinen Vorschlägen probiert: Mack the knife und sunny side. Die Melodie herauszuhören funktioniert und macht Spaß. Interessant dabei finde ich auch, dass man mit dieser Methode den Aufbau der Melodie versteht und sie dann ganz gut in andere Tonarten übertragen kann. Deine Ausführung zur zu transkribierenden Bassline, den diatonischen Stufen und Zwischendominaten habe ich leider nicht verstanden :) Dürfte ich Dich evtl. um etwas Kontext dazu bitten :)?
     
  2. Grammatico

    Grammatico Nicht zu schüchtern zum Reden

    @Paul2002
    ...auf jeden Fall neugierig und bei der Musik auch irgendwie ziemlich ehrgeizig, ohne wirklich zu wissen, was genau das Ziel ist :)
     
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  3. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest


    Wie alt bist du denn?

    Ergänzend zu Kristinas Beitrag:
    Ich glaube, was sie bezüglich Basslinien, Zwischendominanten etc. meint, ist, dass du dein Ohr für Harmonik schulst, indem du schaust, was für Akkorde vorkommen.

    Der Trick bei Zwischendominanten ist es (wie oft) symmetrische Strukturen zu finden, die das Chaos der eigentlich asymmetrischen Musik ordnen. Jede diatonische Zwischendominante, bei der eine Auflösung nach Moll der Hörerwartung entspricht (in A-Dur etwa C#7 nach F#moll, F#7 nach Hmoll, G#7 nach C#moll) hat einen speziellen Sound, der in unseren Hörgewohnheiten fest verankert ist und ihr die typisch dunkle Klangfarbe verleiht: Ein vollverminderter Vierklang - also vier kleine Terzen übereinander. Am Beispiel: C#7 enthält G#-Vollvermindert, F#7 enthält C#-Vollvermindert, G#7 enthält D#-Vollvermindert).

    Wenn man solche Klänge identifizieren kann, weiß man schneller, welche Akkorde gespielt werden, weil man die harmonisch so aussagekräftigen Halbtonschritte entdeckt (bei C#7 nach F#moll vor allem D->C#, E#->F#, G#->A)

    Das ist ziemlich anspruchsvoll fürs Ohr, es lohnt sich also, früh damit anzufangen. Die Changes einen Blues zu hören und sich nicht in der Form zu verlieren ist aber schon anspruchsvoll genug, das sage ich ehrfürchtig mehr denn herablassend.

    Um im den speziell beleuchteten Sound etwas einzutauchen, spiel mal immer abwechselnd einen Molldreiklang und einen vollverminderten Vierklang, dessen Grundton einen Halbton tiefer liegt, in beliebiger Schichtung, Richtung etc. und guck, dass du mal höher und mal tiefer in die Extrem deines Tonumfangs kommst.

    Lester Young lernte das Konzept vermutlich von Sy Oliver (Louis Armstrongs altem Meister) und setzte es in seiner Komposition Tickle Toe um.
     
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 5.November.2020
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  4. Rick

    Rick Experte

    Ja, das ist gut und wichtig, aber die Verwendung von Lead Sheets würde ich nicht per se verteufeln. Diese sind ja auch wieder eine "Wissenschaft für sich" und müssen interpretiert werden, wobei es immer gut ist, die Nummern schon mal gehört zu haben - andererseits muss man im Musikeralltag auch in der Lage sein, völlig unbekannte Titel vom Blatt zu interpretieren.
    Sonst geht einem bei einem mehrstündigen Dinner-Gig (wichtige Einnahmequelle für Jazzer!) rasch mal das Repertoire aus, vor allem bei "Telefon-Bands", deren Mitspieler sich nicht so gut kennen, vielleicht noch nie vorher miteinander gearbeitet haben - denn wenn jeder die Nummer in einer anderen Version kennt, benötigt man einfach eine gemeinsame Referenz, und die ist meist das "Real Book". ;)
     
  5. Grammatico

    Grammatico Nicht zu schüchtern zum Reden

    @Paul2002

    vielen Dank. Ich kann Deiner Argumentation so in etwa folgen, aber ich fürchte, mir fehlt im Moment noch einiges an harmonischem Wissen, um die Methode anwenden zu können. Ich werde erstmal weitermachen damit, mir Melodien und Akkordwechsel herauszuhören.
    Mein Alter: Jedenfalls so, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit annehme, dass die Musik für mich eher Spaß bleiben, als Beruf werden wird :)
     
  6. Kristina Bossanova

    Kristina Bossanova Ist fast schon zuhause hier

    @Grammatico @Paul2002

    Für die folgende Erklärung solltest du Intervalle und den Quintenzirkel verstehen und Akkordschreibweisen! Außerdem wie verschiedene Akkordgeschlechter (Dur, Moll, halbvermindert) aufgebaut werden (habe ich unten aber auch noch mal in schrägen Klammern notiert) Ich kann dafür Frank Sikoras neue Harmonielehre empfehlen!

    Mit diatonischen Stufen meine ich folgendes... setz dich mal an ein Klavier oder mach es auf einem Notenpapier und spiels dir mit dem Saxophon vor. Nimm eine Tonart (sagen wir mal F Dur , hat ein Bb) und schichte von jedem Ton der Tonleiter einen Vierklang/Terzen auf. Also einen Ton aufschreiben, einen überspringen.

    Notationsweise der Intervalle: 1, b2, 2, b3, 3, 4, b5, 5, b6, 6, 7, j7, 8 (achtung, 7 ist irregulär)

    I: F maj7 (F,A,C,E) / 1, 3, 5, j7/
    II: G-7 (G, Bb, D, F) /1, b3, 5, 7/
    III: A-7 (A, C, E, G)
    IV: Bb maj7 (Bb, D, F, A)
    V: C7 (C, E, G, Bb) /1, 3, 5, b7/
    VI : D-7 (D, F, A, C)
    VII: E -7b5 (E, G, Bb, D) /1, b3, b5, 7/

    Und tadaa, dass sind die Vierklänge, die sich aus F Dur ergeben. Zum Beispiel in Rythm Changes in F sind die ersten zwei Takte

    /Fmaj7 D7 / G-7 C7/ Fmaj7....

    Wir wissen jetzt Fmaj7, G-7 und C7 kommen in der Tonart F vor, sie sind diatonisch. G-7 ist die 2. Stufe, C7 die 5. Stufe und Fmaj 7 die erste. Da ist sie, diese berühmte II-V-I Verbindung!

    Aber stell dir vor diese II-V-I Verbindung kann uns nicht nur zur ersten Stufe führen (welche man auch Tonika nennt) Was ist mit dem Akkord D7 aus unserem Beispiel? In D7 (kann man mit meinen Akkordschemas in den schrägen Klammern selber ausrechnen) kommt sogar ein F# vor was ja oberflächlich gar nichts mit F major zu tun hat! Dafür schreiben wir uns alle II - V- I Verbindungen auf zu den diatonischen Stufen von F Dur, auch Zwischendominanten oder Zwischen II- V- I genannt. Dafür nehme ich aus jeweils den Tonarten die zweite und fünfte diatonische Stufe!

    I: G-7 / C7 / Fmaj7
    II: A-7b5 / D7b9 / G-7
    III: B-7b5 / E7b9 / A-7
    IV: C-7 / F7 / Bbmaj 7
    V: D-7 / G7 / C7
    VI: E-7b5 / A7 b9 / D-7
    --------------- Zur siebten Stufe nicht

    Dann sieht man dann dass D7 aus meinem Beispiel die Zwischendominante nach G-7 ist.

    Warum ist das wichtig?
    Weil Akkorde nicht irgendwelche Naturereignisse sind die auf dem Strahl der Zeit willkürlich passieren, sondern weil sie Zugkraft haben und zu bestimmten Tonalen Zentren oder Stufen gehen wollen. Je besser wir diese Zusammenhänge verstehen und HÖREN desto besser können wir die Akkordverbindungen spielen! Außerdem können wir vier Akkorde die für den Laien vier einzelne Ereignisse sind als einen großen Klotz verstehen den wir bereits kennen! Dadurch können wir Stücke leichter lernen, weil wir uns übergeordnete Strukturen merken und nicht jeden einzelnen Akkord! Wir lernen bestimmte Akkordschemen zu sehen und bereits zu wissen wie sie klingen ohne einen Ton gespielt zu haben!

    Ich kann dir leider nicht alles hier im Forum erklären, am besten besorgst du dir das Frank Sikora Buch. Ich habe nichts davon, denke bloß dass es das beste ist.
     
  7. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Das ist zwar alles eigentlich richtig, aber mir brennts jetzt doch unter den Nägeln!
    Die Frage war ja für mein Verständnis, wie man als einjähriger Hobbysaxophonist die Tür in Richtung Jazz-Standards aufmacht und sich ein kleines Repertoire draufschafft.
    Jetzt ist der Thread bei Zwischendominanten und radial-symmetrischen Dominant-Substituten gelandet, und Leadsheets stehen im Verdacht, der Musikalität im Weg zu stehen! PLEASE!!! :(

    Meine Gedanken dazu:
    - Der Standard der "schriftlichen Dokumentation" im Jazz (außerhalb arrangierter Musik) ist und bleibt seit Jahrzehnten das Lead-Sheet. Ja, Jazz ist "gesprochene Sprache" die im Prinzip von Beginn an hörbar dokumentiert werden konnte. Die Schriftform ist im Gegensatz zur E-Musik nicht so dogmatisch, die "mündliche" Überlieferung ist (wie bei Rock und Pop) der Goldstandard. Aber moderne Jazzmusiker sind (mit ganz wenigen Ausnahmen) keine musikalischen Analphabeten, heute noch weniger als früher. Wie man mit Lead-Sheets umgeht/umgehen kann gehört ins Repertoire eines Musikers. Wenn das Ergebnis dann uninspiriert oder unmusikalisch ist, liegt es meines Erachtens selten am Leadsheet, höchstens an der fehlenden Kompetenz der Verwendung. Und wenn man sich schnell Repertoire draufschaffen will und keine Erfahrung mit Raushören hat, ist Aufnahme + Lead-Sheet das übliche und schnellste Vorgehen, nicht mehr und nicht weniger.

    - Diatonische Funktionen, Sekundärdominanten und Turnarounds sind wichtige Elemente, die in Standards ständig passieren. Aber wenn man Standards erlernen will, ist die theoretische und praktische Beschäftigung damit m.E. nicht der erste Schritt. Wenn man ein ganzes Jahr Funktionsharmonik und Progressionen paukt, kann noch immer keinen einzigen Standard spielen :). Das ist wie Lauftraining, damit ich später mal Fußballspielen kann. Ich bin selber auch ein großer Theoriefreund und finde den Sikora super. Ich glaub aber ehrlich, dass es für die meisten nicht hilfreich ist, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Für die ersten Schritte Richtung Harmonierlehre kann es schon ein großer Schritt sein, wenn man Songs wie Blue Moon lernt (I-vi-ii-V7), und zwar mit Lead-Sheets, damit man die Stufen-Zusammenhänge auch sieht. Nach ein paar Nummern dieser Art kommt das Aha-Erlebnis und man entdeckt selber, wie der Hase hüpft! Danach macht die Theorie Sinn und Spaß, und dann kann man auch Komplexeres mit Freude verstehen.

    - Ähnlich ist es mit der Symmetrie, das ist total spannend. Ich glaube übrigens nicht, dass die Symmetrie das klassische Ordnungsprinzip in der Musik ist, um das Chaos zu ordnen. Ich glaube eher, es ist das Spannungsfeld zwischen Konsonanz und Dissonanz im zeitlichen Verlauf sowie der Quintfall - es ist aber echt eine schwierige Frage. Wenn ich eine diatonische Melodie in reiner Stimmung pfeife, habe ich in der Regel keine Symmetrie in den Intervallen. Die Symmetrie in Akkorden und Skalen (v.a. übermäßig, vermindert und der Tritonus) funktioniert in dieser Form nur im gleichschwebenden Universum. Mächtige Ordnungsprinzipien in der Musik gab es aber schon lange davor. Interessanterweise funktionieren radialsymmetrische Konstrukte vorrangig in Dominantfunktionen, so auch dein Beispiel mit moll und vermindert. Da muss man aber auch mit Tensions umgehen können, erfordert Hörgewohnheit und Erfahrung. Meines Erachtens ist es auch eher Overkill, wenn man eigentlich erste Standards lernen will - das ist wie spezielle Klettertechniken, wenn es ums Bergwandern im Vorland geht.

    Bitte korrigiert mich, wenn ihr denkt, dass ich hier völlig falsch gewickelt bin, aber so empfinde ich es. Meine Empfehlung wäre daher auch eher Aebersold 54 oder ähnliches, und gut ists. Und dazu Aufnahmen konsumieren in rauhen Mengen.
     
  8. ppue

    ppue Mod Experte

    Alles richtig, @giuseppe, nur ein wenig lang für die Quintessenz, dass hier ein wenig über das Threadziel hinaus geschossen wurde (-;

    Schad aber nix, @Grammatico weiß, wo er steht und wird sich nicht als erstes an das Tritonussubstitut wagen. In der Praxis muss eh jeder seinen eigenen Weg finden, der eine mit mehr Theorie, der andere mit Etüden, der dritte im freien Spiel und wieder andere mit Hilfe von Noten oder durch das Heraushören von Aufnahmen.

    Am besten macht man das alles mal (-:
     
  9. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    :) Drum mach ich Absätze, damit sich der Leser auf Einleitung und Zusammenfassung beschränken kann. Ich bin aber auch so erzogen, Kritik zu begründen, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde etwas schlecht machen, wenn es nicht meine Absicht ist. Ich weiß das ist nicht zeitgemäß...
     
    Sax-o-K, Rick, gaga und einer weiteren Person gefällt das.
  10. Grammatico

    Grammatico Nicht zu schüchtern zum Reden

    Agree @ppue – es ist meine Verantwortung, etwas aus dem zu machen, was mir hier angeboten wurde. Alles, was ich gelesen habe, ist hilfreich, einige Ideen kann ich sofort umsetzen, andere werde ich erst nach vielen Übungsstunden wirklich verstehen und umsetzen können.

    Ich finde es unglaublich hilfsbereit, dass sich Leute die Zeit genommen haben, sich mit den wahrscheinlich banalen Anfängerproblemchen eines völlig Unbekannten zu beschäftigen – vielen, vielen Dank dafür; das habe ich in noch keinem Onlineforum so erlebt, ein großes Kompliment an Euch !

    @Kristina Shamgunova und @Paul2002 : vielen Dank für Eure Erläuterungen. Sie sind logisch und verständlich. Gefühlt ist das, was ich kognitiv verstanden habe, aber im Moment ganz sicher noch nicht umsetzen kann, der überübernächste Schritt für mich, eine tolle Orientierung für das, was noch kommen kann.

    Overall haben mir Eure Antworten die Türe dazu geöffnet, damit anzufangen, tatsächlich Musik zu machen, im Gegensatz zum ersten Jahr, in dem ich brav die Skalen rauf- und runter geübt und die Stücke aus O´Neill gespielt habe. Konkret habe ich damit angefangen, Melodien herauszuhören und auf Basis der Erläuterungen zur Diatonik die Architektur der Stücke verstehend, dazu zu spielen – vielleicht die Babyversion des Input, den ich von Kristina bekommen habe . Den Sikora habe ich mir angeschaut, aber damit bin ich im Moment noch überfordert – ich habe mir anstattdessen „Rock & Jazz Harmony“ von Mathias Löffler zugelegt und jetzt auf Seite 65 (von rd 800) angekommen, einige Sachen verstanden, die die Landkarte so langsam füllen.

    Also: Vielen Dank nochmal für Euer aller Input, ich freue mich, dass ich hier gelandet bin !
     
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