Chromatik im Jazz

Dieses Thema im Forum "Improvisation - Harmonielehre" wurde erstellt von Gelöschtes Mitglied 13399, 4.August.2023.

  1. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Ich denke, da hast du zumindest verfehlt, worum es mir speziell, aber dein Beitrag ist dennoch wertvoll und ich wünschte, man würde den Leuten nicht immer erzählen, Swing wäre wirklich ternär (schaut die Schulbigband an).
    Mir ging es darum, dass eine Phrase sich verzögert oder beschleunigt anfühlt, obwohl keine derartige Charakteristik an den realen, tatsächlich gespielten Notenlängen festzumachen ist.
     
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  2. ppue

    ppue Experte

    Das ist sie in der Klassik ja auch oft. Wenn man nicht gerade Charles Mingus hört, gibt es das im Jazz so gut wie nicht.
     
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  3. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Ja, und Outside ist für mich (im Gegensatz zu daneben oder willkürlich) meist etwas in einem Solo, das eigentlich eine stilistisch zu erwartende Konstruktion hat (z.B. Akkordbrechung und Linie in Sekunden und Terzen in einer stilistisch typischen Rhythmik), was aber nicht den gerade klingenden Akkord bedient sondern einen anderen, der auf den ersten Blick gar nicht passt, aber halt irgendwie schon - ein Paralleluniversum um es mit Nerd-Jargon zu sagen. Outside funktioniert für mich dann, wenn zum einen der Akkord eine gewisse Verwandtschaft und Gemeinsamkeiten mit dem eigentlichen Akkord hat (Tritonus-Substitut ist ein klassisches und mittlerweile durchaus eingängiges Beispiel) und zum anderen, wenn es gelingt eine geschmeidige Auflösung zu spielen, die wieder in den Ausfangsakkordraum zurückführt, ins Heimatuniversum.

    Man kann natürlich nach Methoden für Outsidespiel suchen und wird tausendfach fündig. Solche Rezepte sind auch gut, weil nicht jeder gleich gut erfasst, was da passiert. Wichtig ist aber die Wirkung zu erzielen, die schwer zu beschreiben ist und wohl von den Hörgewohnheiten abhängt, damit man gerade genug Verwandtschaft hört, um die Grundharmonie noch mit im Kopf zu hören. Es gibt Dinge, die ich früher eher komisch oder schrecklich fand und jetzt genial und es gibt Dinge, die ich noch nicht durchsteige. Das heißt für mich, man kann Outside nur die Tonräume ergründen, die man schon als verwandt hört. Und das ändert sich mit Wissen und Erfahrung.

    Ich Probier es mal mit Bildern:

    Inside: Du steigst auf der Durchreise in einer kleinen Pension ab. Am Herd der einsehbaren Küche steht die freundliche alte Besitzerin, es gibt gute Hausmannskost. Nach einer Nacht mit erholsamem Schlaf serviert die reizende Tochter einen starken aromatischen Kaffee und du reist erfrischt und mit einem guten Gefühl weiter.

    Outside: Du steigst in o.g. Pension ab. Am Herd steht deine Grundschullehrerin, im gleichen Kleid wie vor Jahrzehnten, die dich kurz und herzlichen begrüßt und dich dann etwas schroff anweist, dich auf deinen Platz zu setzen. Zum Essen gibt es Insekteneintopf. Du ekelst dich zu Tode, kannst aber nicht anders, als alles aufzuessen, weil es so lecker ist. Nach dem Essen packst du deinen alten Schulranzen, der auch da steht und gehst in dein Zimmer. Im Bett liegt das Zimmermädchen. Du willst sie rauswerfen und merkst, dass es deine Frau ist. Ihr habt Sex, aber plötzlich ist es die Cousine deiner Frau. Du erwachst und weißt nicht was du geträumt oder erlebt hast, nimmst deine gewohnte Reisetasche, genießt o.g. Kaffee und fährst mit einem komischen aber guten Gefühl weiter.

    So ungefähr fühlt sich gutes Outside-Spiel für mich an, nur schneller.

    Ein Meister des cinematographischem Pendant zu Outside ist dann wohl David Lynch mit seinen traumähnlichen Rissen in der Realität.

    Ich hoffe es schickt mir jetzt niemand einen Krankenwagen…
     
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  4. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Ihr seid aber mittlerweile weit weg von Harmonik und Melodik und rein im Rhythmus angekommen.
    Zumindest habe ich das Gefühl, dass die unterschiedliche Auffassung von Rubato (auch die kleinsten Nuancen davon) in Klassik und Jazz das Thema geworden sind.
    In der Klassik bewegt sich der Puls mit deinem Puls, der Atem mit deinem Atem. Der ganze Musikfluss atmet und darf das in einem gewissen Rahmen.
    Im Jazz liegt unter der Atmung immer der gleichförmige Rhythmus des Zuges der im gleichen Tempo über die Schienenschwellen rattert. Tadam-Tadam. Wahrscheinlich hat sich dieser Grundbeat im Leben tourender Musiker im frühen 20. Jahrhundert einfach in die Musik gefressen. Vielleicht war es auch was anderes, aber so leuchtet es mir ein. Der Beat ist mechanisch und immer gleich, nie organisch und atmend. Die Musik darauf darf atmen und wackeln, am Ende muss sie aber wieder auf den Beat.
    Das ist übrigens für mich oft das Schwierigste daran, wenn man mit Klassikern eine Jazz-Nummer spielt. Viele verstehen nicht, dass der Beat nicht zur Disposition steht, können nicht rubato spielen und trotzdem auf dem Beat bleiben.
     
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  5. Silver

    Silver Strebt nach Höherem

    Überbordende Phantasie eines alternden Mannes ist für sich alleine noch kein pathologischer Befund. :D
     
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  6. Silver

    Silver Strebt nach Höherem

    Ich finde, man kann das eine nicht von den anderen trennen. Auch die Harmonie hat ihren Rhythmus, die Melodik sowieso und erst die (gelungene) Kombination dieser Elemente macht die Musik.

    Wenn man zum Beispiel den Grundton der geltenden Harmonie oder gar des tonalen Zentrums beiläufig auf den Off-Beat der Zwei legt und dann auf Drei eine Halbe lang die b9 stehen lässt, hat man … ääh … „Hörgewohnheiten herausgefordert“ …
     
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  7. antonio

    antonio Gehört zum Inventar

    Wau... weiter so... gefällt mir sehr gut.

    antonio

    PS: Den Krankenwagen hab ich umgeleitet...

    Ach so- interessanter Thread, gefällt mir auch, obwohl ich gefühlt die Hälfte verstehe, aber doch glaube etwas dabei zu lernen :)
     
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  8. Werner

    Werner Strebt nach Höherem

    Genau. Und möglicherweise hat das mit Improvisation zu tun. Wenn einerseits eine große Freiheit von Melodieerfindung und rhythmischer Freiheit besteht, braucht es einen stabilisierenden Anker. Interessanterweise ist das bei indischer Klassik genauso. Da werden zwar alle möglichen rhythmischen Unterteilungen virtuos und improvisatorisch benutzt, die time selber geht aber im Ensemblespiel metronomhaft durch (mit Ausnahme des solistischen und stark agogischen Intros (Alaap), bei dem aber nur ein Instrument spielt, ausserdem wird beim (kurzen) Schluß systematisch die Geschwindigkeit gesteigert.) Im Übrigen ist indische Klassik auch in Formzyklen organisiert, ähnlich den Chorussen im Jazz und Blues.
    Möglicherweise ist der Stabilitätsanker der festen time (und der Form) also eine Art Grundvoraussetzung für Improvisation im Ensemble.

    Edith sagt: Natürlich ist mein letzte Satz so nicht haltbar. Es gibt ja frei improvisierende Ensenbles. Möglicherweise ist das eine Frage der Balance. Je freier ein Bereich wird, also beispielsweie der time, umso mehr wird ev harmonische Komplexität schwieriger, und umgekehrt. Naja, ist Spekulation.
     
    Zuletzt bearbeitet: 5.August.2023
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  9. Juju

    Juju Strebt nach Höherem

    Zum Thema Chromatik im Jazz allgemein, da gibt es zwei Sorten, zum einen pointless chromatic noodling, welches eins meiner pet hates ist und man ganz häufig bei Leuten hört, die anscheinend denken, dass das irgendwie cool ist und zum Jazz gehört und die es dann einfach mal so einstreuen, ohne zu wissen, was sie da machen, und so hört es sich dann auch an….
    Zum anderen geschicktes placement, so dass die Akkordtöne auf der richtigen Zählzeit landen. Da muss man aber wissen, an welcher Stelle man eben KEINEN Halbton mehr setzen kann. Und klar ist Rhythmus da alles entscheidend wie und ob die Phrase funktioniert. Interessant wird es da eh erst, wenn man sich von Achtelketten verabschiedet- man schaue sich nur ein Charlie Parker Solo an…
    LG Juju
     
  10. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Genau, das meinte ich ja. In der Klassik ist es typisch, im Jazz nicht. Mir gefällt es aber in Jazzsolos, die ansonsten "klassisch" sind (im Sinne des "klassischen" Jazz)

    Das verstehe ich nicht ganz, schließlich spielt Bird ganz überwiegend Achtelketten oder Sechzehntelketten und nur selten etwas anderes, bzw. sind seine Quintolen, Sechzehnteltriller, Achtelteiolen etc. sind entweder Akkordbrechungen oder simple diatonic patterns alla 4 5 4 2 3 1 (sechzehnteltriller, achtel, zwei achtel), seine chromatik geht m.M.n. innerhalb der Achtel- und Sechzehntelketten gut auf.
     
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  11. Juju

    Juju Strebt nach Höherem

    Viertel, Achtel, Sechzehntel, Triolen, längere Noten, Pausen, you name it. Ganz besonders faszinierend: Use of Space! Wenn man allein den ersten Chorus von Yardbird Suite anschaut, da fängt eigentlich kaum eine Phrase auf der gleichen Zählzeit wie die vorhergegangene Phrase an. Da muss man schon rhythmisch und harmonisch Plan haben, was wo hingehört, sonst gibt's eine Bruchlandung (nicht nur eine...).
    LG Juju
     
  12. giuseppe

    giuseppe Strebt nach Höherem

    Da bin ich mit auch bei guten Improvisatoren gar nicht sicher, ob das alle immer wissen, was in der wilden Dominante gerade passiert. Ich glaub entscheidend ist, immer alle Ausgänge zu kennen, inkl. der Notausgänge. :)
     
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  13. GelöschtesMitglied11524

    GelöschtesMitglied11524 Guest

    Da passt dazu, was ich heute beim Laufen gehört hab :)
    Dave Tofani, ein bekannter NY-Studio-Saxophonist, stellt als Jugendlicher Kenny Dorham eine Frage...



    Do you know what chord you're on?
    No, I'm just hearing that shit....
     
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  14. ilikestitt

    ilikestitt Strebt nach Höherem

    Chromatik kann interessant eingesetzt werden, wenn man weiss was man tut und es gezielt einsetzen kann. Zu viel davon klingt wie alles was man zu viel einsetzt.
    Ob dann Chromatische Annäherung (in seinen zig Varianten mit vielen oder wenigen Noten, zum Downbeat hin oder Harmonienote dann auf Offbeat), als Durchgangsnote oder -noten, um es etwas atonaler klingen zu lassen oder Spannung zu erzeugen, es gibt so viele Möglichkeiten. Ich wäre auch vorsichtig bestimmte Dinge da bestimmten Musikstilen zuzuordnen, denn du wirst immer Aufnahmen und Noten finden, die solchen angeblichen Regeln nicht folgen. Erlaubt ist was funktioniert und den gewünschten Klang bringt. Für Inside-Outside Geschichten wäre Chromatik allerdings nicht meine Wahl, da würde ich vom Denken anders ran gehen.
     
  15. Gelöschtes Mitglied 13399

    Gelöschtes Mitglied 13399 Guest

    Gerade arbeite ich an einer Komposition und mir ist aufgefallen, dass ich eine gewisse Exzentrik gerade einfach gut finde. Vielleicht fällt das mit dem Thread zusammen, in dem es mir um den Wunsch der Neubelebung meiner Kreativität ging. Mir ist innerhalb des Stücks eine Linie eingefallen, die in Sachen Stimmführung nahezu perfekt ist, und eine, die eigentlich einen deutlichen Fehler in der Stimmführung hat, aber ich komme nicht darum, letztere auszuwählen, weil sie für mich besser klingt und vor allem spannender. Also - dem Bauchgefühl öfter zu folgen, ist jetzt erst einmal meine Devise. If it sounds good...
     
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  16. Gelöschtes Mitglied 15173

    Gelöschtes Mitglied 15173 Guest

    Das geht mir auch so, dass ich mich geistig öffne, wenn ich mich mit einer Sache näher beschäftige.

    Das ging los bei mir mit Klaus Doldinger und Passport, nachdem er/sie Mitte der 2000er durch Nordafrika getourt ist und dort nachhaltig von orientalischen Musikstilen beeinflusst wurden. Ich fand die Musik (z.B. Passport To Marocco) vollkommen gräuselig damals.
    Heute empfinde ich orientalische und afrikanische Einflüsse im Jazz als extrem spannend und bereichernd und höre dies sehr gerne.
    Ebenso das Thema Free Jazz - für mich vor 2 Jahren nur Krach, heute höre (und spiele) ich das mit Freude.

    Mein Tipp - hier gibt es beides in einem Album und ich höre die LP zur Zeit hoch und runter:

     
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